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Im Zeitalter von Internet und Multimedia trennt uns vom Jahr 1900 technisch gesehen scheinbar mehr als ein Jahrhundert. Wer käme aus heutiger Sicht auf die Idee, von der Zeit um die Jahrhundertwende als einem ‚Zeitalter der Nervosität‘ zu sprechen? Doch mit dem Anwachsen der Großstädte in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts tauchte damals ein Krankheitsbild auf, das mit den Begriffen ‚Nervosität‘ bzw. ‚Neurasthenie‘ umschrieben wurde. Mediziner warnten vor der „beginnenden ‚Entnervung‘ ganzer Völkerschaften“. Letzlich ging es in dieser Nervositätsdebatte um 1900 um Phänomene, die uns sehr modern anmuten: um Reizüberflutung und Überforderung, um Wirklichkeitsverlust, um Abstumpfung und Oberflächlichkeit und vor allem um die Flut der visuellen Eindrücke.

Die Kritik richtete sich in erster Linie gegen das Großstadtleben, aber die Beschleunigung der Kommunikation im Sinne von Verkehr und Nachrichtenaustausch spielte dabei eine exponierte Rolle:

„... durch den ins Ungemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert: Alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für die Geschäfte benützt, selbst die ‚Erholungsreisen‘ werden zu Strapazen für das Nervensystem; große politische, industrielle, finanzielle Krisen tragen ihre Aufregung in viel weitere Bevölkerungskreise als früher; ganz allgemein ist die Anteilnahme am politischen Leben geworden: Politische, religiöse, soziale Kämpfe, das Parteitreiben, die Wahlagitationen, das ins Maßlose gesteigerte Vereinswesen erhitzen die Köpfe und zwingen die Geister zu immer neuen Anstrengungen und rauben die Zeit zur Erholung, Schlaf und Ruhe; … die moderne Literatur beschäftigt sich vorwiegend mit den bedenklichsten Problemen, die alle Leidenschaften aufwühlen, die Sinnlichkeit und Genusssucht, die Verachtung aller ethischen Grundsätze und aller Ideale fördern; sie bringt pathologische Gestalten, psychopathisch-sexuelle, revolutionäre und andere Probleme vor den Geist des Lesers; unser Ohr wird von einer in großen Dosen verabreichten, aufdringlichen und lärmenden Musik erregt und überreizt, die Theater nehmen alle Sinne mit ihren aufregenden Darstellungen gefangen ...“

Die Medien fungieren damals wie heute als Taktgeber und Schrittmacher eines 
Beschleunigungsprozesses, der alle Lebensbereiche ergreift. Aussagen über den Niedergang der Kultur finden offenbar immer dann öffentliche Resonanz, wenn Entwicklungsschübe bisherige kulturelle Gepflogenheiten in Frage stellen und entwerten.

Heute sind es die gefühlskalten und beziehungsunfähigen Cyberzombies, vor denen Clifford Stoll, ein zum Medienkritiker konvertierter Internetpionier, im SPIEGEL warnen darf: Das Internet sei des Teufels, es werde „entsetzliche Auswirkungen auf die Ausbildung und Erziehung haben“, und es sei kein Zufall, dass jugendliche Amokläufer „all ihre Freizeit im World Wide Web verbracht haben.“

Den apokalyptischen Warnungen vor dem Untergang der Kultur stehen überzogen optimistische Szenarien über die Segnungen des technischen Fortschritts entgegen. Sicherlich nicht zufällig spielt sich dieser Kampf der Zukunftsprognosen mit Vorliebe auf dem Schauplatz der Bildung ab.

Seit der Erfindung des Telefons wird jede neue technische Entwicklung – von der Schallplatte über Radio, Film und Fernsehen bis zum Computer und Internet – von Prophezeiungen über den Eintritt in das goldene Zeitalter der Bildung begleitet, einem Zeitalter, in dem die bisherige Schule obsolet geworden ist, weil es bessere und bequemere Transportwege für das Wissen auf der Höhe der Zeit gibt.

Erstaunlich, dass diese Debatte immer wieder geführt wird, obwohl das ent-scheidene Argument gegen die Überschätzung der Medien schon von Sokrates in seiner Kritik an dem damals neuen Medium Buch formuliert wurde: Bücher vermitteln, so wird Sokrates im Phaidros wiedergegeben, nur den Schein der Weisheit, sie können den Dialog nicht ersetzen, da sie nur scheinbar Antworten auf Fragen geben.

„Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Besagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe.“ Die Schrift überliefert ‚totes Wissen‘. Wissen, das wachsen und Samen tragen soll, muss im Gespräch nach den „Vorschriften der dialektischen Kunst“ gesät und gepflanzt werden.

Die neuere Platon-Forschung verweist mit Nachdruck darauf, dass man diese ‚Medien-kritik‘ nicht mit dem ironischen Hinweis übergehen kann, dass uns diese Argumente nur dank der bewahrenden Kraft der Schrift erhalten wurden.

Das Ausklammern und Aussparen bestimmter Fragen in den Dialogen zeigt, dass es einen mündlichen oder ungeschriebenen Platon gibt. Diese ‚Esoterik‘ der platonischen Philosophie ist nicht mit Geheimhaltung zu verwechseln, sondern beruht auf der Einschätzung, dass der schriftlichen Belehrung klare Grenzen gesetzt sind, über viele Dinge „müsse man in langem philosophischem Zusammenleben privat reden, bis die entscheidende Einsicht aufgeht, nicht aber öffentlich schreiben …“

Die Medien ermöglichen es, die Borniertheit unseres unmittelbaren Erfahrungs- und Kommunikationshorizonts zu überschreiten, sie eröffnen neue Zugriffs- und Bearbeitungsmöglichkeiten, sie ersetzen aber nicht das Lernen in der unmittelbaren personalen Beziehung. Medien nützen nur dem etwas, der bereits über Wissen verfügt. Lernen kann nicht mit dem bequemen, schnellen und möglichst umfassenden Zugriff auf die jeweils aktuellen Informationen gleichgesetzt werden. Lernen im Sinn von Bedeutungszuweisung und Aushandeln von Sinn ist an den Dialog und die unmittelbare Kommunikation gebunden.


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In absehbarer Zeit werden auch die Schülerinnen und Schüler der Sophienschule über ihren eigenen Laptop verfügen, auch wenn der Apparat dann anders heißen und funktionieren mag. Lehr- und Lernprozesse werden sich wie bereits in den letzten 100 Jahren ändern, aber Schule als gemeinsamer Lernort wird sich nicht im Cyberspace auflösen.

Wolf-Rüdiger Wagner
Leitender Direktor beim Niedersächsischen Landesinstitut 
für Fortbildung und Weiterbildung im Schulwesen 
und in der Medienpädagogik (NLI)


1  Erb, Wilhelm: Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit, Heidelberg 1893, 
    S. 20.

2  Stoll, Clifford: Ein faustischer Pakt, SPIEGEL vom 18.10.1999, S. 302.

Platon, Sämtliche Werke, Bd.4, Rowohlts Klassiker, S.56.

4  Szlezák, Th. A.: Dem Geheimnis Platons auf der Spur – Schritt für Schritt wird 
    die „ungeschriebene Lehre“ des größten europäischen Denkers rekonstruiert, 
    in: Süddeutsche Zeitung vom 11./12.03.1995, S.I.

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