RELIGIONSUNTERRICHT 
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Die Frage nach Gott: 
Das Proprium des Religionsunterrichts auch in der postmodernen Gesellschaft?
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1. Der Religionsunterricht 
   in der Diskussion der 
   letzten 40 Jahre
Seit den 60er Jahren hat der Religionsunterricht einen großen Wandel durchlebt und auch überlebt. Von der „steilen“ dogmatischen Unterweisung einer Katechese in der Schule über eine Horizontalisierung in Folge der 68er „Kulturrevolution“, einer anschließenden Konsolidierung in Konzepten eines problemorientierten 
und korrelativen Religionsunterrichts bis hin zu gegenwärtigen Versuchen, die 
Didaktik des Faches der veränderten Lebenseinstellung unserer „neuen“ Schülergeneration anzupassen, die man glaubt, seit Mitte der 80er Jahre feststellen zu können.1

Hinzu kommen die Auseinandersetzungen um den ursprünglichen Ersatzunterricht „Werte und Normen“, seine Aufwertung als gleichwertiges Abiturprüfungsfach und die gleichzeitige Diskussion um die Konfessionalität des Religionsunterrichts. Nicht zuletzt hat auch der Streit um das neue Fach LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religion) in Brandenburg – das Bundesverfassungsgericht wird vermutlich noch 1999 über die Klage der Kirchen entscheiden – dazu beigetragen, die Frage nach dem Proprium des Religionsunterrichts verstärkt zu stellen.

Auch die beiden Kirchen fühlten sich durch diese Entwicklungen aufgerufen, ein Wort zum Religionsunterricht in der Gegenwart zu sagen, und veröffentlichten unabhängig voneinander wichtige kirchenamtliche Dokumente. 1994 erschien die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „Identität und Verstän-digung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität“ 2, und zwei Jahre später, 1996, gab das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz eine umfassende Stellungnahme zum Religionsunterricht mit dem Titel „Die Bildungs-kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religions-unterrichts“ heraus.3 In Niedersachsen führten alle diese Diskussionen auch zu 
einer Neufassung von Erlassen, die u.a. die Möglichkeit einer konfessionellen Koope-ration – bundesweit einmalig – offiziell aufweisen. Hierzu ist Ende des letzten Jahres eine Broschüre über den Religionsunterricht in Niedersachsen erschienen, die von den beiden Kirchen und dem Niedersächsischen Kultusministerium gemein-sam herausgegeben worden ist.4

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2. Ziel des Religionsunterrichts So wichtig die schulrechtliche Seite auch ist, insofern sie Ermöglichungsbedingun-gen für einen zeitgemäßen Religionsunterricht schafft: Entscheidender für Unterricht und Erziehung ist jedoch die Erschließung des Inhalts eines Faches für die junge Generation. In Bezug auf den Religionsunterricht bedeutet dies, den Schülerinnen und Schülern von heute die existentielle Bedeutsamkeit einer transzendenten Wirklichkeit zu vermitteln, die in vielfältigen Zeugnissen großer religiöser Traditionen sowohl in der Vergangenheit wie in der Gegenwart zur Sprache kommt und eine Sinnperspektive menschlichen Seins eröffnet.

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3. Die Zeichen der Zeit Doch wenn nicht alles täuscht, scheint der jungen Generation die „Antenne“ für diese vierte Dimension verloren gegangen oder zumindest der „Empfang“ gestört zu sein. Die Lebenseinstellung hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Allgemein wird von einer Individualisierung und Privatisierung des Lebens sowie von einer religiösen Indifferenz gesprochen.5 Individualisierung als Korrelat des weltanschaulichen Pluralismus weist darauf hin, dass bei dem Verlust einer allgemein verbindlichen Wahrheit nur noch der Einzelne für sich selbst Maßstäbe setzen kann. Damit verbunden sind der Rückzug ins Private und die Vernachlässigung der Übernahme von Verantwortung für andere. Mit religiöser Indifferenz wird die Haltung umschrieben, die die religiöse Frage als nicht mehr diskussionswürdig ansieht, weil sie für das eigene, private Glück nicht von Bedeutung ist.

Wie kaum ein anderes Fach bekommt der Religionsunterricht den Wind der Zeit zu spüren. Bisweilen treibt er ihn an oder bläst ihm kräftig wie in den „wilden“ 70er Jahren ins Gesicht. Heute ist jedoch eher eine seichte nivellierende Brise zu spüren, ganz im Stil der spätmodernen Beliebigkeit eines „Anything goes“.6 D.h. Religion wird nicht mehr fundamental in Frage gestellt, eher scheint es nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und dem Abdanken von Karl Marx als ideologische Kultfigur wieder eine gewisse Religionsfreudigkeit zu geben, so wie es Friedrich Nietzsche, der neue „Prophet“ in der Postmoderne, schon vor 100 Jahren ankündigte.7 Dabei hat sich Religion allerdings verändert und ist zu einem privaten Lebenselixier, einer besonderen „Duftnote“ einer selbstverliehenen Exotik, geworden. Schöpfer dieser Religion ist nun der Einzelne selbst. Sie ist eine Weise, die Welt und den Kosmos in einem Allgesamt nach je eigenem Gutdünken zu betrachten, aber stets nach dem Motto noli me tangere, also: „Das ist meine eigene Sicht der Dinge, das geht dich nichts an!“ Damit gestaltet sich Religion ganz im Sinne der Feuerbachschen Religionsanalyse als Wunschdenken und Projektion des Einzelnen. Feuerbach hätte heute seine helle Freude bei der Betrachtung der diffusen religiösen Einstellungen unserer Zeit.

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4. Die Gottesrede in der 
    Gegenwart
Doch ist das, was uns der Zeitgeist offeriert, Religion? Hat Feuerbach nicht vielmehr Recht, dass dieser so genannte religiöse Mensch bei sich selbst verbleibt? Mit Religion im Sinne der jüdisch-christlichen Tradition hat das jedenfalls nichts zu tun. Diese redet vielmehr von einem Gott, der nicht verfügbar, nicht definierbar ist und der lästig wird, wo der Mensch sich in seiner eigenen Welt einrichtet und abkapselt, um den berechtigten Anspruch anderer zu verdrängen.8 Er wird bezeugt als der unbequeme Gott, der den Menschen in seiner Selbstgefälligkeit in Frage stellt, ihn aus dem Gefängnis seiner Selbstbezüglichkeit herausreißen und auf eine größere Identität verweisen will, die allein in der Selbsttranszendenz, biblisch gesprochen in der Nachfolge Jesu, zu finden ist. Die wahre Identität, die der Philosoph und Psychologe Erich Fromm mit der Kategorie des Seins im Unterschied zur Haben-Mentalität9 umschreibt, ist nach theologischer Auffassung eine bedingungslos geschenkte Identität eines auf den Menschen mit unerschütterlichem Vertrauen zukommenden Gottes.10 In diesem göttlichen Zuspruch des „Du sollst leben“ gründet die Freiheit des Menschen von dem Zwang zur Selbstbehauptung und von dem Zwang zur Anpassung um der Anerkennung durch andere willen. 

Als der Gott des Lebens ist der biblische Gott aber auch ein Gott, der sich der zu allen Zeiten drängenden Frage nach dem Leid der Menschen nicht nur stellt, sondern auch gegen das Leid protestiert.11 In der Sprache des Gewissens weist er beharrlich auf das Leid der Mitmenschen hin und setzt es als nicht seinsollend immer wieder „auf die Tagesordnung“. Die Bibel bezeugt ihn aber auch als den Gott, der das eigene erlittene Leid, ob körperlich oder seelisch, beim Namen nennt und den Schrei und die Klage12, Urformen des Gebets, an „sein Ohr dringen“ und sich davon „bewegen“ lässt (vgl. Ex 3). So wird im jüdisch-christlichen Gotteszeugnis das Leid zum Ort der Erfahrung Gottes. Gott wird wahrgenommen als ein unbedingter Impuls zur Veränderung der Bedingungen des Unrechts und des Leids oder aber auch als seelische Kraft, die das Paradoxon, ein „Markenzeichen“ jüdischer und christlicher Existenz, leben lässt. Im Bewusstsein der Solidarität Gottes mit den Entrechteten und Gequälten kann damit das Leid angenommen werden, ohne zu verzweifeln. Das ist die Essenz der jüdisch-christlichen Erzähltradition von Gott als „dem [in der Geschichte erfahrbaren] Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der auch der Gott Jesu Christi ist“.13 Von der existentiellen Kraft dieses Gottesgedächtnisses zeugen viele Lebensschicksale von Juden und Christen. Dieses Gotteszeugnis als Kern des evangelischen wie katholischen Religionsunterrichts steht in einem klaren Widerspruch zu der oben beschriebenen Einstellung postmodernen Denkens.

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5. Der Beitrag des 
    Religionsunterrichts zur 
    Bildung der Persönlichkeit
Will der Religionsunterricht sein Proprium in der heutigen Zeit aber nicht verraten, so muss er der anmaßenden Soft-Erwartungshaltung, die ihm entgegengebracht wird, entschieden widersprechen. Bisweilen kann man als Lehrer den Eindruck gewinnen, als ginge es in der Schule nur noch um möglichst gute Noten mit dem geringstmöglichen Einsatz, nicht aber mehr um Bildung.
Demgegenüber gewinnt der Religionsunterricht in der heutigen Zeit aber nur dann an Profil, wenn er sich nicht dem Zeitgeist postmoderner Individualisierung und Beliebigkeit anpasst und sich nicht nur an Schülerwünschen, die ja auch immer nur singulär sein können, orientiert, sondern sich vielmehr bewusst zu dem verbreiteten selbstbezüglichen Denken in Opposition setzt und eine geistige Zumutung wagt.
Gerade mit der Provokation schafft der Religionsunterricht Möglichkeiten zur Reifung des jungen Menschen und leistet so einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung. Dieser Beitrag besteht nicht in der unkritischen Übernahme vorgegebener religiöser Interpretationsmuster, sondern vielmehr in der Konfrontation mit einer bestimmten weltanschaulichen Position und damit im Bieten von Anreizen zur Auseinandersetzung mit Auffassungen des christlichen Glaubens zu existentiellen Fragen. Neben der Vermittlung wichtiger kultureller Inhalte fördert ein pädagogisch offener Religionsunterricht die Urteilskraft und Identitätsbildung des jungen Menschen.
Der Bildungsprozess, den der Religionsunterricht initiieren will, hat aber nicht nur eine formale Seite, sondern auch noch eine inhaltliche Tiefe. Denn derjenige, der die Gottesrede existentiell zu internalisieren vermag, gewinnt in der Gewissheit des unbedingten Bejahtseins eine Distanz zu sich selbst, die erforderlich ist, um eine Persönlichkeit zu werden.
Ewald Wirth


 1 Vgl. z.B. W. Helsper (Hrsg.), Jugend zwischen Moderne und Postmoderne, 
    Opladen 1991. B. Melzer-Lena, Aktuelle Trends bei der jungen Generation. 
    Zusammenfassende Erkennt-nisse aus der Jugendforschung. Vortrag vom 
    27.01.1989 in Münster/Westf. (unveröffent-lichtes Manuskript) und die 
    Wertewandel-Studien „Dialoge 3“ und „Dialoge 4“ des Wirtschaftwissenschaft- 
    lichen Instituts der Universität Hannover von 1990 bzw. 1994. Vgl. hierzu auch 
    den Artikel von D. A. Schacht, „Lebenserotiker“ scheuen Engagement, in: 
    HAZ,  02.11.1995. Th. Ziehe, Jugend, Alltagskultur und Fremdheiten. Zur 
    Reform der Lernkultur, in: O. Negt (Hrsg.), Die zweite Gesellschaftsreform, 
    Göttingen 1994.

 2 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.), Identität und 
    Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der 
    Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 
    1994.

 3 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die Bildende Kraft des 
    Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts 
    (= Die deutschen Bischöfe Nr. 56), Bonn 1996.

 4 Konföderation evangelischer Kirchen und die katholischen Bistümer in 
    Niedersachsen (Hrsg.), Religionsunterricht in Niedersachsen. Zum 
    Organisationserlass Religionsunterricht / Werte und Normen – Dokumente und 
    Erläuterungen, Stolzenau 1998. 

 5 Vgl. zum Folgenden F.-X. Kaufmann, Die heutige Tradierungskrise und der 
    Religionsunterricht, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), 
    Religionsunterricht. Aktuelle Situation und Entwicklungsperspektiven. 
    Kolloquium vom 23.-25. Januar 1989, Bonn 1989, 60-73, hier 67f., Ders., 
    Religiöse Indifferenz als Herausforderung, in: Religionsunterricht an höheren 
    Schulen 31 (1988) S.67-75.

 6 Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 21988, S. 4f.

 7 Vgl. J. B. Metz, Religion, ja – Gott, nein, in: Ders. / T. R. Peters, 
    Gottespassion. Zur Ordens-existenz heute, Freiburg-Basel-Wien 1991, S. 
    14-67,  hier S. 23f.

 8 Vgl. den Gottesnamen „Jahwe“ in Ex 3,14 und hierzu: E. Zenger, Wie spricht 
    das Alte Testament von Gott? in: H. Fries / K. Hemmerle / W. de Pater / E. 
    Zenger, Möglichkeiten des Redens über Gott, Düsseldorf 1978, S. 57-80, hier 
    S. 67f.

 9 E. Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen 
    Gesellschaft, Stuttgart 1979.

10 Vgl. O.-H. Pesch, Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie, 
     Freiburg-Basel-Wien 1983, S. 53-74; 250-328; 355-416.

11 J. B. Metz, Im Eingedenken fremden Leids. Zu einer Basiskategorie christlicher 
     Gottesrede, in: J. B. Metz / J. Reikerstorfer / J. Werbick (Hrsg.), Gottesrede 
     (= Religion – Geschichte – Gesellschaft; 1.), Münster 1996, S. 3-20.

12 Vgl. J. B. Metz (Hrsg.), „Landschaft aus Schreien“. Zur Dramatik der 
     Theodizeefrage, Mainz 1995.

13 J. B. Metz, Im Eingedenken fremden Leids, a.a.O., S. 8.
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