Der
Fall Latein |
Wenn
es Latein nicht gäbe, müsste man es für die Schüler
erfinden“, so sagte in einem privaten Gespräch vor bald 30 Jahren
ein Göttinger Philosoph, von Hause aus Physiker, also ein ganz unparteischer
Zeuge, als seine Kinder zur Schule gingen und Latein lernen mussten.
Seine
Gründe sind nach wie vor überzeugend. Nicht etwa, weil das Lateinische
eine besonders logische Sprache darstellt; Latein funktioniert nach denselben
Regeln wie alle uns umgebenden Sprachen: Alle Sprachen könnten also
im Unterricht dasselbe leisten wie Latein. Aber die Tradition und die Intention
des Unterrichts unterscheiden sich von der der anderen (modernen) Fremdsprachen,
die ja die aktive Beherrschung, die Kommunikationsfähigkeit in der
Zielsprache als ein wesentliches Ziel ansehen. Im Lateinunterricht hingegen
(und genauso im Griechischunterricht) steht die passive Beherrschung der
Sprache im Vordergrund, das (Wieder-)Erkennen von Strukturen und – besonders
wichtig – ihre Benennung. Für den Philosophen bedeutet dies, dass
fundamentale Kategorien der Erkenntnis wie etwa Singular und Plural, Tempus
und Aspekt, die Unterscheidung der Kasus, Aktiv und Passiv etc. systematisch
und über lange Zeit geübt werden. Begünstigt wird dieses
Verfahren allerdings durch die Tatsache, dass Latein, etwa dem Deutschen
oder dem Russischen vergleichbar, eine Sprache mit ausgeprägter Morphologie
ist, die die Kategorien auch explizit zum Ausdruck bringt. Gerade darin
ist aber die Schwierigkeit der Sprache für die Schüler begründet;
es braucht schon eine gewisse Zeit und viel Übung und Geduld, sich
durch die vielen Formenreihen durchzuarbeiten und sie sich anzueignen oder
mit den andersartigen syntaktischen Strukturen umgehen zu können.
Eine
weitere Schwierigkeit liegt in der komplexen Tätigkeit des Übersetzens,
die ja einen großen Teil des Unterrichts darstellt. Hierbei müssen
viele Kenntnisse und Fähigkeiten aktiviert werden. Ein linearer fremdsprachlicher
Satz muss als hierarchische Struktur verstanden (dekodiert) und in der
eigenen Sprache über die neue hierarchische Struktur als neuer linearer
Satz wiedergegeben (kodiert) werden. Dabei sind viele Bedingungen zu beachten:
zum einen der gesamte Kontext, zum anderen die Streuung der Bedeutungen
der einzelnen Wörter (ihr semantisches Feld), die ihre Kombinierbarkeit
bestimmen, und schließlich die morphologischen und syntaktischen
Gegebenheiten. Der Übersetzer muss vor allem wissen, wann er eine
Struktur oder ein Wort direkt übertragen kann oder wann er die Struktur
umformen und das Wort spezifizieren muss und wie weit eine solche Veränderung
gehen darf. Erschwerend kommt hinzu, dass die behandelten Texte durch die
weiter gehende Zielsetzung des Faches als „Kulturunterricht“ wie auch durch
die Überlieferung als solche meist der Literatursprache angehören,
die man auch im Altertum schon durchaus als Kunstsprache empfunden und
gepflegt hat. Die Virtuosität des Satzbaus, wie man ihn aus Cicero
kennt, ist natürlich für einen Thomas Mann kein Problem, wohl
aber für manchen Schüler, der sich einem undurchschaubaren Labyrinth
ausgeliefert sieht. Umgekehrt stellt die virtuose Kürze anderer Schriftsteller
ein ebenso großes Problem für das Verständnis dar. Dass
aber die Handhabung dieses komplexen Vorgangs kein unerhebliches Training
bedeutet, bei dem Genauig-keit und Sprachgefühl auch in der eigenen
Sprache gefördert werden, liegt auf der Hand.
Bezüglich
der Inhalte liegt der Schwerpunkt des Unterrichts in der Tat auf der Kennt-nis
der antiken Kultur; je nach Alter der Schüler stehen Geschichte, Mythologie,
Literatur, Philosophie oder Kulturgeschichte im engeren Sinn im Vordergrund.
Durch den Rückgang des Griechischunterrichts ist der Lateinunterricht
der wesentliche Vermittler dieser Inhalte geworden. Wo zeitliche Spielräume
bleiben, die aber regel-mäßig mit dem Argument der Politiker,
das sture Pauken bringe ja doch nichts, beschnitten werden, oder wo interessierte
Kollegen sich engagieren, wird das latei-nische Mittelalter, mitunter auch
der Bibeltext, miteinbezogen. Denn die historisch-politische und geistesgeschichtliche
Kontinuität, die sich trotz aller Umbrüche und eines ständigen
inneren Wandels unter anderem durch die mehr oder weniger intensive Rezeption
der antiken Texte in den verschiedenen Jahrhunderten ergeben hat, bewirkt,
dass die antike Kultur auch für die Gegenwart von großer Bedeutung
ist und dass es sich lohnt, sie zur Kenntnis zu nehmen. Dieses Reservoir
an poetischer Kraft, Lebensmodellen und wissenschaftlicher Systematik hat
nie wirklich aufgehört, seine Faszination auszuüben, weder im
literarischen noch im künstlerischen Bereich.
Es
ist zwar ein altes Argument, aber deshalb durchaus noch gültig: Die
eigene Kulturtradition auch in den älteren Stufen und ihrer dadurch
bedingten Anders-artigkeit zu kennen, wenn auch – leider – nur in begrenztem
Ausmaß, ist eine unbestreitbare Bereicherung des einzelnen, eine
Bereichung, der sich z.B. auch Marx und Engels durchaus bewusst waren.
Dies steht evidenterweise nicht im Gegensatz zu einer genauen Kenntnis
der zeitgenössischen Kultur. Der Zugang zu den älteren Epochen
ist aus verschiedenen Gründen schwieriger geworden, vor allem wohl,
weil er ein hohes Maß an Zuwendung erfordert, aber auch hierin liegt
der Gewinn.
Reinhilt
Richter-Bergmeier
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