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An
einem regnerischen Abend im Dezember kurz vor Weihnachten. In einem hanno-verschen
Lokal sitzen ehemalige Sophienschüler, um sie herum Rauchschwaden,
überall Stimmengewirr: „Hi, wie geht’s?“ – „Ich studiere.“ – „Weißt
du, wo Tobias steckt? Nichts mehr seit dem Abi von ihm gehört.“- „Der
studiert in Göttingen BWL.“ – „Ich mach’ ein Praktikum bei ’ner Werbeagentur
in Hamburg.“ – „Hanna ist in Afrika und arbeitet in einem Workcamp.“ –
„Ja, mache Zivi im Altersheim, is’ echt scheiße.“ – „Ich wohn’ jetzt
in Stuttgart, mach’ eine Ausbildung dort.“ ...
Und
wir? Was haben wir denn nach dem Abitur gemacht? Wir haben nicht angefangen
zu studieren und machen auch keine Ausbildung. Deshalb hören wir unseren
ehemaligen Mitschülern auch etwas neidisch zu, wenn sie uns von der
Uni, ihrer eigenen Wohnung, einer tollen Studentenparty und dem Streß,
zwischen ihrer neuen Heimatstadt und Hannover hin und her zu pendeln, vorschwärmen.
Bei
uns ist das nämlich alles ganz anders.
Wir
haben uns bis zum Sommer 1999 kaum Gedanken über unsere Zukunft gemacht.
Wir haben nie in der Schule wegen Bewerbungsgesprächen bei Banken
gefehlt. Wir haben uns lieber auf das Jetzt konzentriert, das für
uns Klausuren, Lernen für’s Abi, Freunde treffen, Party und Faulenzen
bedeutete. Für uns war das Abi stets eine Ewigkeit entfernt, bis die
Prüfungen auch schon vorbei waren und wir die Zeugnisse in den Händen
hielten. Danach war erst einmal Feiern angesagt. Doch irgendwann waren
die Diskos und Kneipen leer, die Leute tauschten die Sektflasche mit dem
Lehrbuch über Medizin, Wirtschaft, Jura oder Maschinenbau ein.
Auch
wir wollten unsere Zukunft nun in die Hand nehmen. Zunächst machten
wir uns voller Elan auf zum BIZ (Berufsinformationszentrum), fragten Freunde
nach Rat, erkundigten uns bei Universitäten über ihr Fächerangebot,
und zu guter Letzt mußten sogar unsere Eltern berichten, wie sie
zu ihrem Beruf gekommen sind. Aber all das half uns wenig weiter. Und Aussprüche
wie „Mach doch BWL, da haste was und später biste was“ sind bei uns
schon längst im Unwörterbuch des Jahrtausends gelandet.
Also
taten wir das, was irgendwann einmal jeder Schulabgänger tut, wir
griffen zur „grünen Bibel“. Bei der Lektüre des Studien- und
Berufswahlführers wurde uns klar, dass wir nun erst recht die Qual
der Wahl hatten. Uns eröffnete sich ein ungeahnt breites Feld an Studienmöglichkeiten.
Warum sollten wir nicht Schnitt auf Diplom an der Hochschule für Film
und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babels-berg studieren? Oder wie
wär’s mit Provinzialarchäologie auf Magister an der Universität
Bonn? Und warum eigentlich sind wir noch nie auf die Idee gekommen, uns
mit Geschlechterstudien/Gender Studies an der Humboldt-Universität
zu Berlin zu beschäftigen?
Als
Ausweg blieb die Flucht. Wir plaudern aus dem Nähkästchen:
Anna:
Ich
setzte mich nach Israel ab und hoffte, Abstand zu finden. Über meine
Zukunft wollte ich mir klar werden und tauchte deshalb in ein vollkommen
anderes Leben ein. Zum ersten Mal arbeitete ich richtig, weil ich alles
selbst finanzieren mußte und das in einem fremden Land, in dem die
erste Amtssprache Hebräisch ist. Ich putzte Wohnungen, pulte 8 Stunden
am Tag Knoblauchknollen auseinander, heuerte als Bootsmädel an und
arbeitete als Kellnerin in einer Disko. Die Unbeschwertheit des Schulalltags
war vorüber.
Ich
mußte mit Vorurteilen anderer kämpfen und eigene abbauen. Ich
lernte, mein Leben zu organisieren und dass es, auch wenn man mit 40 Grad
Fieber krank im Bett eines überfüllten Jugendherbergzimmers liegt,
weiter geht.
Solche
Erfahrungen gaben mir Selbstvertrauen und Stärke. Ich weiß jetzt,
dass ich schwierige Situationen allein meistern kann.
Durch
das Kennenlernen anderer Kulturen erweitert sich der eigene Horizont, man
lernt seine eigene Kultur und sich selber besser kennen. Ich habe viele
Menschen getroffen, die mir durch Erzählungen über ihren Lebensweg
klar gemacht haben, was ich will und welche Wertvorstellungen mir wichtig
sind. Mir ist bewusst geworden, dass ich nur machen sollte, was mir wirklich
Spaß macht, und nicht das, was mir andere Leute als vernünftig
anpreisen. Denn nur dann werde ich Erfolg haben. Ich finde, manchmal ist
der Umweg der direkteste Weg.
Gunda:
Ich
habe auch erlebt, dass man sich im Ausland, fern von zu Hause, besser kennen-lernt.
In Marokko absolvierte ich ein Praktikum beim Radio. Ich erhielt Einblick
in das Arbeitsleben einer Journalistin, konnte sehen, was es heißt,
tagtäglich auf Hindernisse zu stoßen, nur weil man eine Frau
ist. Marokko ist ein ausschließlich muslimisches Land, in dem Mädchen
teilweise noch heute mit 14 Jahren verheiratet werden, ein Mann oft mehr
als zwei Ehefrauen hat und die Analphabetenrate für Frauen bei 60%
liegt. Allerdings mußte ich ebenso gewisse Vorurteile abbauen, nicht
jede muslimische Frau trägt einen Schleier und kuscht vor einem Mann.
In der Hauptstadt Rabat, in der ich zwei Monate lebte, sind die meisten
Frauen sehr emanzipiert im Vergleich zu anderen arabischen Staaten.
Als
Fatna, eine arabische Freundin, und ich uns über die Ausbildungsmöglich-
keiten in Marokko und Deutschland unterhielten, ist mir klar geworden,
welche Chancen sich mir als Europäerin bieten, man muss sie nur ergreifen.
Deshalb
bin ich nach Frankreich gegangen, um mein Schulfranzösisch aufzubessern.
In
meiner Zeit in Marokko und Frankreich habe ich begriffen, dass man offen
auf andere Menschen zugehen muß. Es ist dabei von Vorteil, wenn man
mehrere Sprachen spricht. Mir ist klar geworden, dass mir ein Beruf, der
viel mit Menschen und ihren verschiedenen Kulturen zu tun hat, Spaß
machen würde.
Wir
sind jetzt wieder zurück in Hannover, wohnen (noch) zu Hause. Gunda
macht wieder einmal ein Praktikum beim Radio, und Anna ist mittlerweile
sogar schon immatrikuliert – für Gartenbau. Aber nur damit ihre Eltern
Kindergeld kriegen.
Gunda
Meinecke und Anna Rossmann, Abiturjahrgang 1999
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