Manchmal,
auf dem Heimweg stadtauswärts oder aus der List kommend, wird mir
plötzlich bewusst: Jetzt bist du ganz nahe bei deiner alten Schule
... Manchmal mache ich dann einen Schlenker durch die Seelhorststraße,
um einen Blick auf
das
rote Gemäuer mit der Büste der Kurfürstin Sophie zu werfen.
Manchmal aber packt mich auch eine plötzliche Unlust, und ich mache
einen Bogen um dieses
Gemäuer.
Welche
Erinnerungen habe ich an meine Schulzeit in der Sophienschule der Jahre
1950 bis 1959? Ich muss den Anfang suchen.
Die
Aufnahmeprüfung im März des Jahre 1950. Ein handverlesenes Häuflein
kleiner Mädchen aus Kirchrode wurde 14 Tage lang mit anderen auf seine
Eignung zum Besuch der Höheren Schule getestet. Wir bestanden. Dumme,
eingebildete kleine Dinger waren wir damals! Wir wussten doch, dass viele
und Begabtere in der Volksschule blieben, weil sie ihre Väter im Krieg
verloren hatten und die Mütter das Schulgeld nicht bezahlen konnten.
Wir fühlten uns trotzdem als etwas Besonderes und ließen es
die anderen bis Ostern 1950 auch spüren.
Die
Einschulungsfeier im April 1950 fand im Zeichensaal statt. Die Aula war
wegen Bauarbeiten noch nicht benutzbar. Auch die Sophienschule hatte im
Krieg arg
gelitten.
Erst kurz vor Weihnachten des Jahres 1949 hatte man die Turnhalle
und
vier Klassenräume wieder aufgebaut, bald darauf den dritten Stock
unter
Dach
und Fach gebracht. Mein erster Schultag führte an den Trümmergrund-stücken
der Bultstraße vorbei. Täglich begleiteten uns die Ermahnungen
der Eltern, ja nicht vom Wege abzugehen. Ein Kriegskindalptraum begleitete
mich lange Jahre: Ich balancierte im Traum auf den hochaufragenden Mauern
eines Trümmerhauses.
Der
Vater einer Schulfreundin war noch in russischer Kriegsgefangenschaft.
Er hatte seiner Frau eine Nachricht zukommen lassen, die Tochter ja in
die Höhere Schule zu schicken. Aufregend fanden wir das! Kurze Zeit
später kehrte er zurück, mit dem ersten Schub der durch Adenauer
freigekommenen russischen Kriegsheimkehrer.
Strenge
Sitten herrschten damals in der Sophienschule! Wenn man die Schule betrat,
musste man einen Knicks vor Frau Oberstudiendirektorin machen. War er nicht
tief genug, musste man noch einmal zurück.
Meine
Deutschlehrerin im 5. Schuljahr verblüffte ich durch einen Beitrag
zur deutschen Geistesgeschichte. Auf die Frage, welche bedeutenden deutschen
Dichter wir schon kennen, steuerte ich den Namen meiner geliebtesten „Dichterin“
bei: Else Ury. Die schmunzelnde Abwehr meiner Lehrerin ließ ein Weltbild
in mir zusammenbrechen. Ein neues war rasch aufgebaut, vornehmlich durch
die profunde Kenntnis deutscher Balladen.
Der
erste Tadel „Adelheid schwatzt“ brachte mich an den Rand eines Nervenzusammenbruches.
Und wie leicht sich die Lehrer damals ärgern ließen! Leises
Pfeifen, nasse Kreide, Stühlerücken oder ein Wecker im Klassenschrank
ließen den ganzen Unterricht zusammenbrechen. Große Anerkennung
wurde dem gezollt, der solche Störungen mit gelassener Heiterkeit
ertrug.
Damals
war so genannter Schichtunterricht, weil die Räume nicht reichten.
Wir kamen abwechselnd früh um 8 Uhr und mittags um 13.20 Uhr. Dann
war der Unterricht erst um 18.20 Uhr aus.
In
der 7. Klasse wählte ich Latein als zweite Fremdsprache, um mit meinen
Freundinnen zusammenbleiben zu können. „Puellae aram coronis ornant“,
„discere, disco, didici“... Meine Schulfreundin Leni lernte mit doppeltem
Eifer Stammformen. Sie hatte einen „Freiplatz“ und musste Wohlverhalten
auf der ganzen Linie zeigen, sonst hätte sie ihn verloren.
Wir
hatten im Großen und Ganzen eine vergnügte Zeit. Wir fuhren
ins Landheim nach Hambühren, damals wirklich zur Erholung und um zuzunehmen.
Bei der Ankunft und vor der Abfahrt wurden wir gewogen, ob von Makkaroni
mit Tomaten-
soße
und Vierfruchtmarmeladebroten etwas hängen geblieben sei. Unser größtes
Vergnügen war, dem Lehrer Schuhcreme auf die Zahnbürste zu drücken.
Am
Ende der 8. Klasse verließen einige meiner Klassenkameradinnen die
Schule. Sie kamen „vom Lande“ und hatten genug Geistiges gelernt. Nun sollten
sie auf einer Hauswirtschaftsschule zu Hausfrauen und Müttern gerüstet
werden.
In
der 9. Klasse wählte ich Griechisch als dritte Fremdsprache. Die Klassen
wurden für etwas Besonderes gehalten. Wir hielten uns deshalb für
die Elite der Schule und beobachteten Inferioritätsgefühle bei
den Latein- und Französisch-Klässlern.
Humanistisches
Gedankengut entnahm ich allerdings weniger dem Übersetzungs-gestokel
im Latein- und Griechischunterricht meiner Schulzeit als vielmehr einschlägiger
Lektüre, die ich später las.
Mit
15 Jahren besuchte ein Großteil der Klasse die Tanzstunde. Zur gleichen
Zeit erlebte ich bewusst eine erste Kränkung. Die ersten „Hausbälle“
fanden statt, und ich wurde nicht eingeladen. Viel später erfuhr ich
den Grund: Mein Vater, ein großzügiger und besonnener Mann,
war „nur“ Kaufmann.
Mit
16 Jahren verliebte ich mich zum ersten Male heftig, und die Schule geriet
etwas in den Hintergrund. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte ich Polycolor-Blondierungs-creme
und rosa Lippenstift. Ein Lehrer, der mir wohlwollte, bestellte meine Mutter
in die Schule und riet ihr, mildernd auf mich einzuwirken; meine Versetzung
war gefährdet. Ich war so brav und rein, durfte nur zweimal in der
Woche bis 21 Uhr ausgehen, doch meine Lehrer sahen Anzeichen beginnender
Verwahrlosung in meinem Habitus. Ich war empört, fügte mich aber,
rüstete um auf mittelblonde Hochsteckfrisur, legte einen geistigen
Endspurt vor und wurde versetzt.
Meine
innigste Freundin musste mit der Mittleren Reife die Schule verlassen.
Ihr Vater war nicht bereit, länger Schulgeld zu zahlen. Seine Tochter
sollte baldmöglichst Geld verdienen. Der Lateinlehrer intervenierte,
umsonst. Diese Freundin hat nie ganz verwunden, das Abitur nicht gemacht
zu haben, obwohl sie eine beachtliche Karriere gemacht hat. Ich suchte
mir eine neue Schulfreundin. Ich brauchte eine Vertraute, um die Unbilden
des Schulalltags zu überstehen. Es stellte sich bald heraus, dass
sie eigentlich mich brauchte. Sie war ein sportliches, mathematisch und
sprachlich begabtes Mädchen, aber leider mit dem damals unverzeih-lichen
Makel behaftet, im Fach Deutsch „schlecht“ zu sein. Es fiel ihr schwer,
fünf Seiten über einen Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach
zu orakeln oder beim Eintritt der Lehrerin aus dem Stand das Wichtigste
aus „Maria Stuart“, 1. Aufzug, 4. Auftritt, wiederzugeben. Während
wir anderen hastig das Reclamheftchen auf den Knien aufblätterten,
erlebte sie stehend das Waterloo eines Deutsch-Versagers: „Setzen, 5!!“
Mit einer Fünf in Deutsch blieb man damals sitzen. Um die Freundin
zu retten, redigierte ich komplett einen mehrseitigen Aufsatz. Umsonst,
auch dieser wurde mit Fünf benotet.
Wenig
später geriet die Germanistik in die Krise, aber solche Demütigungen
sind nicht wieder gutzumachen. Bei einem Treffen unter Mitvierzigerinnen
gestand mir diese Freundin neulich, dass sie noch heute gelegentlich schweißgebadet
erwache – sie hatte von der Schule geträumt.
Ich
selbst hatte in diesem Fach keine Schwierigkeiten. Als ich aber in der
12. Klasse meine angebetete Lehrerin um ein Thema für eine Jahresarbeit
(eine zusätzliche Fleißaufgabe, für die man sich freiwillig
melden konnte) bat, da riet sie mir, davon abzusehen. So gut sei ich nicht.
So
gern ich mich hin und wieder an meine Zeit in der Sophienschule erinnere
– gelegentlich muss ich einfach einen Bogen um das rote Gemäuer machen.
Adelheid
Kroemer geb. Gille
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