ANPASSUNG UND ANDERSARTIGKEIT 
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Anpassung und Andersartigkeit
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Die Sophienschule und ihre jüdischen Schülerinnen während der Weimarer Republik und des 
Naziregimes
Die Sophienschule, das war eine Judenschule!“ Das sagte mir eine Zeitzeugin, deren Vater sie mit der Begründung „da sind mir zu viele Juden“ 1932 von der Sophienschule nahm. In einem Brief an die Stadtverwaltung schrieb der Direktor der Sophienschule, Dr. Schmidt, zwanzig Jahre früher, am 5. Mai 1911: „Schließlich kann ich nicht verhehlen, daß eine gewisse Erregung besonders des vornehmen Elternpublikums unserer Schule dadurch entstanden ist, daß unsere jüdischen Schülerinnen das Gerücht verbreitet haben, die Sophienschule solle ihre jüdische Religionsschule werden, in welcher auch Jüdinnen der anderen höheren Mädchenschulen gehen müßten.“

Was ist mit „Judenschule“ gemeint? War es tatsächlich so, dass besonders viele jüdische Schülerinnen die Sophienschule besuchten? Und wenn dies so war, war die Schule offen für die Integration jüdischer Schülerinnen? Was steckt hinter der Erregung des ,vornehmen Elternpublikums’ der Sophienschule? Kurz, wie war das Verhältnis der Sophienschule zu ihren jüdischen Schülerinnen in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, und wie veränderte es sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten?


 

Relativ hoher Anteil jüdischer Schülerinnen bis zum Beginn des Nationalsozialismus Die Anzahl der Schülerinnen an der Sophienschule, die aus einem jüdischen Eltern-haus kamen, war seit der Gründung der Schule und bis zum Beginn des nationalsozialistischen Staatssystems im Verhältnis zu dem Anteil der jüdischen Einwohner Hannovers relativ hoch. Von 1900 bis 1932 waren im Durchschnitt 21 Mädchen im Lyzeum und 12 in der Studienanstalt jüdisch. Der Anteil der jüdischen Schülerinnen in der Sophienschule lag im Durchschnitt für diesen Zeitraum bei rund 8 Prozent, im Vergleich zu einem Anteil an der Gesamtbevölkerung Hannovers von 1,3 Prozent (1925).

Es war jedoch nicht so, dass die Sophienschule die meisten jüdischen Schülerinnen in Hannover anzog, weder in der Gesamtzahl noch in Prozent. Die heute nicht mehr existierende Schillerschule hatte einen noch größeren Anteil an jüdischen Schülerinnen von 22 Prozent im 19. Jahrhundert und 16 Prozent zwischen 1924 und 1930. Die Studienanstalt des Oberlyzeums (die heutige Wilhelm-Raabe-Schule) hatte eine ähnliche Anzahl an jüdischen Schülerinnen wie die Studienanstalt der Sophienschule, nämlich 14 im Durchschnitt (1926 und 1932), die jedoch bei der Größe der Schule einen geringeren Anteil der Schülerinnenschaft darstellten.

Diese beiden Schulen lagen im Westen der Stadt. Die andere höhere Mädchenschule in der Oststadt, das Ostlyzeum (aus dem die Ricarda-Huch- und die Käthe-Kollwitz-Schule hervorgingen), wurde kaum von jüdischen Schülerinnen besucht.

Der Grund hierfür war wohl, dass die Sophienschule eine städtische Schule war, während das Ostlyzeum aus einer privaten höheren Töchterschule hervorging. Städtische Schulen waren an die Vorgaben des Staates gebunden, die die formelle und rechtliche Gleichstellung der Juden für den Schulalltag als Prinzip vorgab. Private Mädchenschulen, die lange Zeit durch Elternunterstützung getragen waren, richteten sich mehr nach den Wünschen der Eltern ihrer Schülerinnen, und dies beinhaltete offensichtlich keine Integration jüdischer Schülerinnen.

Die Sophienschule war also die Schule, auf die die Mehrheit der bürgerlichen jüdischen Eltern aus der Oststadt ihre Töchter schickten. Wie sah nun die Integration der jüdischen Schülerinnen in der Sophienschule im Alltag aus?

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Gleiche Rechte auf dem 
Papier und Randexistenz
im Alltag
Der preußische Staat hatte seit Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, gleiche Rechte für jüdische Bürger als ein Prinzip des modernen Staates anzuerkennen. Dies zeigte sich unter anderem in dem Erlass von 1875, der es erlaubte, dass an Preußens öffentlichen Schulen jüdischer Religionsunterricht erteilt werden durfte, wenn genügend Schüler oder Schülerinnen Interesse daran hatten. Seit 1904 fand auf Drängen der jüdischen Gemeinde in Hannover Religionsunterricht an den höheren Jungenschulen statt. 1911 bemühte sich die Synagogengemeinde, diesen auch für Mädchenschulen einzuführen. Seit 1921 durften jüdische Schüler und Schülerinnen wie auch Katholiken an religiösen Festtagen der Schule fernbleiben. In der Theorie genossen jüdische Schülerinnen also dieselben Minderheitenrechte wie Katholiken im protestantischen Staat.

In der Praxis sah es jedoch so aus, dass an Hannovers Mädchenschulen jüdischer Religionsunterricht nie ein vollwertiger Bestandteil des Stundenplanes wurde, wie es die Synagogengemeinde gewünscht hatte. Die Anzahl der jüdischen Schülerinnen pro Jahrgang wurde als zu gering eingestuft, als dass individueller Religionsunterricht hätte finanziert werden können. Es wurde also eine Zusammenlegung der Schülerinnengruppen von der Sophienschule und der heutigen Wilhelm-Raabe-Schule als mögliche Lösung angestrebt. Doch die Schulverwaltung der Sophien-schule weigerte sich, den Stundenplan mit der Wilhelm-Raabe-Schule zu koordinieren. Das Ergebnis war, dass jüdischer Religionsunterricht außerhalb des normalen Stundenplanes am Ende des Schultages stattfand. Eine Gleichstellung des jüdischen Religionsunterrichts auf dem Papier bedeutete also noch nicht eine gleichwertige Behandlung im Schulalltag.

Warum war dies so? Die Kosten eines speziellen Unterrichts für nur acht Prozent der Schülerinnenschaft waren wohl ein Faktor, obwohl die Synagogengemeinde einen Großteil der Kosten trug, diese also nicht allein die Stadtverwaltung hätte aufbringen müssen.

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Andersartigkeit war nicht erwünscht und wurde nicht geschätzt Die Korrespondenz zwischen Dr. Schmidt, dem Direktor der Sophienschule, und der Stadtverwaltung Hannover zu der geplanten Einführung jüdischen Religionsunterrichts deutet jedoch auf zwei weitere Gründe hin. In diesen Briefen, die im Frühjahr 1911 geschrieben wurden, geht Dr. Schmidt davon aus, dass die jüdischen Schülerinnen und deren Eltern keinen jüdischen Religionsunterricht wünschten. In seiner Argumentation, warum die Anzahl der Schülerinnen an der Sophienschule zu gering sei, um dort schuleigenen Religionsunterricht anzubieten, zählte er die jüdischen Schülerinnen, die das 14. Lebensjahr erreicht hatten, nicht mit. Dies begründete er damit, dass sie nach staatlichem Recht nicht mehr verpflichtet 
seien, an jüdischem Religionsunterricht teilzunehmen. Er schrieb außerdem, dass er davon ausgehe, dass einige der jüdischen Eltern keinen Religionsunterricht 
für ihre Töchter wünschten. Zweitens erwähnte er in dem oben genannten Zitat, dass nichtjüdische Eltern, insbesondere das „vornehme Elternpublikum“, die Einführung jüdischen Religionsunterrichts an der Sophienschule nicht gutheißen würden und dadurch „das oben genannte Publikum ... immer mehr in gewisse höhere Privatschulen getrieben“ werde, „die keinen jüdischen Religionsunterricht haben.“

Es scheint also, dass die Schulleitung an der Sophienschule nicht bereit war, den jüdischen Schülerinnen einen Sonderstatus einzuräumen, der aus den staatlich garantierten Rechten wohl hätte abgeleitet werden können. Die Schulleitung ging davon aus, dass es weder im Interesse der Juden noch der Nichtjuden war, dass die jüdischen Mädchen sich öffentlich mit ihrer Andersartigkeit als gleichwertiger Teil der Schulgemeinschaft gegenüber artikulierten.

Diese Haltung, die in der Korrespondenz der Schulleitung zutage tritt, scheint auch vorherrschend in der Schule gewesen zu sein. Nichtjüdische Zeitzeuginnen sagten mir, dass sie den Umgang zwischen Jüdinnen und Nichtjüdinnen an der Sophienschule als „ganz selbstverständlich“ erlebt hätten, und „so war die ganze 
Atmosphäre der Schule.“ Eine genauere Betrachtung der Aussagen oben zeigt, dass dem „ganz selbstverständlichen Umgang“ klare Spielregeln zu Grunde lagen, die sowohl von der Mehrheit der Nichtjüdinnen und der Schulleitung als auch von den jüdischen Schülerinnen in einem Zusammenspiel entwickelt wurden. Es scheint, dass die Mehrheit der nichtjüdischen Mädchen ihre jüdischen Mitschülerinnen nur dann wirklich als integrierten Teil der Schulgemeinschaft akzeptierten, wenn diese sich vollständig anpassten und darauf verzichteten, Andersartigkeit in irgendeiner Weise zur Schau zu stellen. Unter den jüdischen Schülerinnen scheint ein Bewusst-sein dafür existiert zu haben, was diese gesellschaftlichen Normen waren, und je nach Persönlichkeit verinnerlichten die Jüdinnen diese Spielregeln und lebten danach oder rebellierten dagegen. Weit verbreitet scheint auch die Haltung unter den Jüdinnen gewesen zu sein, Nichtjuden den Zugang zu dem, was ihre Religion beinhaltete, zu verwehren.

Für viele Jüdinnen bezog sich die Anpassung vor allem darauf, so „normal“ und damit evangelisch wie möglich zu erscheinen. Eine nichtjüdische Zeitzeugin erzählte, dass die drei Töchter einer jüdischen Nachbarsfamilie „Weihnachten mit in die Kirche“ gingen, „damit sie in der Schule etwas erzählen konnten, dass sie keine Außenseiter sein sollten.“

Eine andere Zeitzeugin sagte, dass sie von einer jüdischen Freundin zum Heiligen Abend eingeladen wurde, „um mir zu zeigen, wie sie den Heiligen Abend feiern.“
Eine jüdische Frau sagte mir: „Ich wußte, dass wir Juden waren, und das gefiel mir gar nicht. Ich wäre lieber evangelisch gewesen, wie alle meine Freundinnen. ... Wir haben auch Weihnachten gefeiert. Das fand ich viel schöner. Ich wollte nicht gerne etwas anderes sein als meine Freundinnen. ... Bei uns war eben der Wunsch, das gleiche zu tun wie alle anderen.“ Sie besuchte auch den evangelischen Religionsunterricht an der Sophienschule.

Keine der Nichtjüdinnen war jedoch je bei einem jüdischen Feiertag eingeladen worden oder wäre je mit in die Synagoge gegangen. Mir wurde gesagt: „Ob sie (die Familie ihrer jüdischen Freundin) religiös waren, das weiß ich nicht. Das wurde vor uns auch gar nicht so demonstriert; ... das war eben so ohne unsere Gegenwart ... nur innerhalb ihrer Familie ohne Besuch.“

Eine andere nichtjüdische Frau erzählte, dass sie einmal mit ihrer jüdischen Freundin, die sie als enge Freundin bezeichnete, über ihre Unterschiede in der religiösen Tradition sprechen konnte: „Ich bin mit (meiner Freundin) in ein sehr ernstes Gespräch über Unterschiede im religiösen Sinne gekommen, und das hat mir sehr viel Eindruck gemacht, dass ich mit einer Klassenkameradin darüber reden konnte.“ Sie fügte hinzu: „Es war eben für mich ein gutes Gefühl, dass man da plötzlich darüber reden konnte, ihr seid so und wir so, und ihr denkt so und wir denken so, wir halten den Sonntag als Feiertag und ihr den Samstag. ... Das war für mich ein Erlebnis, dass man da mal drüber sprechen konnte.“ Unterschiede in der Religion wurden bis auf Momente, die als besondere Ausnahmen empfunden wurden, nicht thematisiert.

Die Spielregeln, die darlegten, was akzeptables Verhalten war, bezogen sich aber nicht nur auf Religion, sie beinhalteten eine Reihe von Verhaltensweisen, die zur Selbstidentifikation der Mehrheit der Schülerinnen an der Sophienschule gehörten, wie Lebensstandard und Wertvorstellungen der Eltern. Eine Zeitzeugin erklärte zur Beliebtheit von Jüdinnen mit Bezug auf deren Verhalten und die soziale Schicht: „In der Klasse über mir waren vier Jüdinnen ... und die waren nicht so beliebt. Das waren so richtig reicher Leute Kinder. Jedenfalls führten die das große Wort in der Klasse; ... da kamen die reichen Jüdinnen natürlich nicht so gut an.“

Über ein anderes Mädchen wurde gesagt, dass sie ein „ziemlich fremdartiges Geschöpf“ war, „irgendwie ein bewundernswertes kleines Mädchen, ... das den anderen Kindern doch wohl recht fremd“ war, vor allem weil sie „intellektuellen Mut“ hatte, da sie als 10-Jährige die Existenz Gottes anzweifelte.

Die ältere Schwester des oben genannten Mädchens schrieb in ihren Erinnerungen: „Als Heranwachsende waren mir die unterschiedlichen Werte zwischen Schule und Zuhause sehr bewußt: autoritär und Zensur im Klassenzimmer, Freiheit zu ergründen und anzuzweifeln am Eßtisch. Es war einfach, eine Entscheidung zu treffen, aber viel schwerer, nach dieser Entscheidung zu leben und die Vorgaben des Systems zu respektieren. Ich beschloß, das System zu bekämpfen, was offensichtlich ein verlorener Kampf war.“

Die gleichen Rechte, die der Kaiserstaat und die Weimarer Republik den jüdischen Mädchen zusprach, hatten also nicht zur Folge, dass Jüdinnen in der Schulgemein-schaft als Jüdinnen geschätzt waren. Viel mehr scheint eine Atmosphäre vorherrschend gewesen zu sein, die Jüdinnen, die sich den Normen so weit wie möglich anpassten, zu respektieren.

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Begrenzung der Anzahl der jüdischen Schülerinnen 
auf 1,5 Prozent
Mit dem Beginn der Hitlerdiktatur änderte sich die Gesetzesgrundlage, auf der das nichtjüdisch-jüdische Zusammenleben basierte, grundlegend. Die Gesetze des 
NS-Staates in Bezug auf Juden hatten zum Ziel, Juden aus dem „arischen Staatssystem“ auszuschließen, und zwangen sie auch deshalb dazu, wieder deutlich „jüdisch“ zu sein. Im Bereich der Schulbildung begrenzte die Verordnung zur Durchführung des Gesetzes gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April 1933 die Anzahl jüdischer Schülerinnen bei Neuaufnahme auf 1,5 Prozent. Ab November 1935 war die Definition der Nürnberger Rassegesetze auch an Schulen die Grundlage zur Bestimmung, wer Jude sei. Das Gesetz vom 15. November 1938 schloss alle Juden aus höheren Schulen aus. Parallel zu den Gesetzen, die Juden immer weiter aus dem gesellschaftlichen Leben ausgrenzten, wurden Gesetze erlassen, die Juden erlaubten, ihre spezifischen Bräuche und ihre Identität auszuleben. Im Schulbericht durften seit dem 16. März 1934 jüdische Schülerinnen am Samstag, zusätzlich zu den Festtagen, dem Schulunterricht fernbleiben.

Wie wirkten sich die Gesetze auf den Schulbesuch der jüdischen Schülerinnen an der Sophienschule aus, und wie stellte sich die Schulleitung und die Schulge-meinschaft dazu?

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Abweichung von der Norm ist auch nach 1933 unerwünscht Der damalige Direktor Dr. Wülker reagierte empört, als die ersten jüdischen Eltern mit der Bitte, ihre Töchter vom Samstagsunterricht zu befreien, an ihn herantraten. Er erlaubte das Fernbleiben der jüdischen Schülerinnen erst, als er von einem der Väter auf die gesetzliche Grundlage hingewiesen worden war. Es scheint also, dass die Schulleitung dem Teil der nationalsozialistischen Politik, die Juden dazu bringen wollte, wieder deutlich jüdischer zu sein, kritisch und unwillig gegenüber stand. In diesem Punkt scheint also Kontinuität im Verhalten der Schulleitung bestanden zu haben, die von ihren jüdischen Schülerinnen vor allem Anpassung an die vorherrschenden nichtjüdischen bürgerlichen Normen verlangte.

In diesem Zusammenhang ist wohl auch die Anfrage zu verstehen, in der Dr. Wülker um Klärung bittet, ob er die jüdischen Schülerinnen zur Teilnahme am Sportfest, das an einem Sonnabend stattfand, ersuchen dürfe und ob jüdische Schülerinnen weiter mit ins Landschulheim fahren dürften. Wie sehr aber Anpassung und Unterordnung von den jüdischen Eltern und Schülerinnen erwartet wurde, zeigt wohl auch die Bemerkung „jüdische Unverschämtheit“, die auf einem Brief zu finden ist, in dem ein Vater mit Bezug auf die Rechtslage die Aufnahme seiner Tochter in die Sophienschule beantragte.

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Gesetzestreue bis zur Kommazahl Eine weitere Tatsache, die ebenfalls in den Dokumenten deutlich wird, ist, dass Dr. Wülker sich in erster Linie als ein dem Gesetz verpflichteter Staatsangestellter verstand, der unabhängig von seiner persönlichen Auffassung die Vorgaben des Staates anzuerkennen und umzusetzen hatte. In der Korrespondenz, die er mit jüdischen Eltern führte, ist er äußerst formal und bezieht sich lediglich auf Gesetzesvorschriften, ohne eine persönliche Meinung erkennen zu lassen, wie in den beiden folgenden Beispielen deutlich wird:

„Sehr geehrter Herr Stern! Bezugnehmend auf die durch ihre Gattin seinerzeit an mich gerichtete Anfrage, muß ich Ihnen leider mitteilen, daß Schülerinnen nichtarischer Abstammung, deren Väter nicht Frontkämpfer sind und deren Eltern nicht arisch sind, in der Sophienschule erst dann wieder aufgenommen werden können, wenn die Zahl der vorhandenen nichtarischen Schülerinnen, die zur Zeit statt der vorgeschriebenen 1 1/2 über 2 Prozent beträgt, auf die festgelegte Zahl zurückgegangen ist. Zur Zeit ist eine Aufnahme nicht möglich.“

Ein anderes Mädchen wurde aufgenommen: „Sehr geehrter Herr! Nach dem Gesetz vom 25.4.33 kann ihre Tochter in der Sexta der Sophienschule aufgenommen 
werden, vorausgesetzt, daß Sie den Nachweis erbringen, daß Ihre Gattin arischer Herkunft ist.“ So zeigt sich Dr. Wülker vor allem als ein akkurater Verwalter und Umsetzer der von den neuen Machthabern diktierten Quote, die den Anteil der 
jüdischen Schülerinnen auf 1,5 Prozent reduzierte.

Die Akten enthalten mehrere Listen, die er anfertigte, um dies auszurechnen. Interessant ist, dass Dr. Wülker begann, sich scheinbar emotional von der Aufgabe, die er erfüllte, zu distanzieren, indem er die jüdischen Schülerinnen entpersonifizierte und sie als ‚Bestand‘ bezeichnete.

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"Eine Mitschülerin hatte mich nicht mehr zum Geburtstag eingeladen" Es war schwer, klare Aussagen von Zeitzeuginnen darüber zu erhalten, wie sich der Schulalltag nach dem Beginn des nationalsozialistischen Staatssystems zu verändern begann, da in der Erinnerung die Jahre und Ereignisse oft nicht mehr klar datiert werden konnten. Es scheint jedoch, dass die jüdischen Mädchen sich immer mehr in eine jüdische Nische zurückzogen, weil sie immer weiter ausgeschlossen wurden, von Freizeitaktivitäten wie im BDM, aber auch im Privaten.

Eine jüdische Frau sagte mir: „Eine Mitschülerin hatte mich nicht mehr zum Geburtstag eingeladen, wo ich jedes Jahr hinging. Ich hatte schon ein Geburtstagsgeschenk gekauft und wurde plötzlich nicht mehr eingeladen.“ Eine nichtjüdische Frau, die einem Dreierklub von einem jüdischen und zwei nichtjüdischen Mädchen angehört hatte, erinnerte sich, wie sie auf Anweisung des Vaters des anderen nicht-jüdischen Mädchens die jüdische Freundin aus ihrem Klub ausschlossen. Eine andere nichtjüdische Frau datierte die Emigration ihrer jüdischen Freundin zwei Jahre zu früh, was darauf hindeutete, dass der Kontakt zwischen den einstmals engen Freundinnen schon zwei Jahre vor 1937 so weit zurückgegangen war, dass die jüdische Freundin, obwohl noch in der selben Klasse, in den Erinnerungen nicht mehr vorkommt.

Wie sehr sich das Selbstverständnis der jüdischen Familien, die ihre Töchter auf die Sophienschule schickten, veränderte, so dass sie sich wohl immer mehr in eine jüdische Gemeinschaft zurückzogen, zeigt der Brief, den eine jüdische Mutter an Dr. Wülker schrieb. Sie bat darin um die Freistellung ihrer Tochter vom Sonnabendunterricht: „Sie werden sicher verstehen, daß die veränderten Verhältnisse mich zwingen, das Kind zu einer bewußteren Jüdin zu erziehen, als es in meinem liberalen Haushalt bisher geschah.“

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"Getürmt" und bedauerlicher-
weise gezwungen, das Land 
zu verlasen
Am 15. November 1938 veröffentlichte das Reichsministerium der Wissenschaft folgenden Erlaß: „Nach der ruchlosen Mordtat von Paris (der Legationssekretär Ernst vom Rath war von dem Juden Herschel Grünspan erschossen worden) kann es keinem Lehrer ... mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen. ... [Ich] ordne daher mit sofortiger Wirkung an: Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen. ... Diese Regelung erstreckt sich auf alle mir unterstellten Schulen einschließlich der Pflichtschulen.“

Seit diesem Datum besuchte keine Jüdin mehr die Sophienschule. Viele hatten aller-dings schon zuvor Deutschland und damit die Schule verlassen. Die letzten Schultage in der Sophienschule werden die betroffenen Schülerinnen unterschiedlich erlebt haben. Eine jüdische Frau erinnerte sich noch daran, wie sie sich am letzten Schultag vor der Emigration 1937 verabschiedete: „Das hat mich sehr beeindruckt, wie ich mich in der Schule von dem damaligen Direktor Dr. Wülker ... verabschiedet habe. Er war sehr gerührt und sehr ergriffen.“ Andere jüdische Schülerinnen scheinen allerdings nicht mit so viel Achtung von der Schule gegangen zu sein. An einen Brief, in dem mitgeteilt wurde, dass eine Schülerin die Schule aufgrund ihrer Emigration nach Amerika verlassen hatte, schrieb höchstwahrscheinlich Dr. Wülker als Kommentar „getürmt“.

Diese unterschiedlichen Reaktionen machen deutlich, dass es nicht eine einheit-
liche Haltung gegenüber allen Juden an der Sophienschule gab, sondern dass Reaktionen und Benehmen gegenüber Juden variierten und wohl davon abhingen, 
inwieweit die betreffende jüdische Familie sich den vorherrschenden Wertevorstellungen der Schule anpaßte. Dies war so vor dem Beginn der Nationalsozialismus und nach 1933.

Die Sophienschule war also eine Schule, die Jüdinnen, so lange der Staat dies vorsah, erlaubte, an der Schulgemeinschaft teilzunehmen, ihnen aber nicht zugestand, dies in ihrer Andersartigkeit zu tun. Die Schule definierte nach den Wertevorstellungen der einflussreichsten Leute in der Schule, wer ein ‚guter‘ und wer ein ‚schlechter‘ Jude sei. Diese Schlussfolgerung wurde aus der Art und Weise, wie sehr die jüdische Familie sich den Spielregeln der Schule unterwarf, gezogen. Erst nach 1933 wurde ‚jüdisch‘ offen als ein negativ belegtes Wort verwendet. Offen jüdisch oder einfach ‚anders‘ zu sein, war jedoch zu keinem Zeitpunkt akzeptiert.

Christina Wille


Die Interviews mit den ehemaligen Sophienschülerinnen wurden 1996 und 1997 im Rahmen der For-schungen zur Magisterarbeit der Autorin an der Universität von Cambridge, England, durchgeführt.

Die Autorin, Jahrgang 1972, ist nach dem Studium der Geschichte und europäischer Integration in England und zweijähriger Berufstätigkeit in Brüssel zu Minderheitenrechten in Europa, heute in Bangkok im Bereich der Migrationsforschung tätig.

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